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Experimente des Aufbruchs
© Martin Förster 

Experimente des Aufbruchs

2019

Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Nur selten bieten Ausstellungsräume ausreichend Platz zum Bewegen: Zwischen empfindlichen Oberflächen, Glaskästen und markierten Zonen zum Abstandhalten wohnt die Mutter der Porzellankiste, müssen Schritte oft mit Bedacht gesetzt werden. Die Ausstellung „Die Erfindung der Zukunft“ (Mai bis November 2019) war anders: Zur Ausstellungsfläche gehörte ein Bereich mit frei beweglichen Kunstwerken und Projekträumen, die viel Platz für Bewegung ließen. Darunter Andreas Angelidakis‘ Arbeit „Demos“, die aus großen stapel- und versetzbaren Kunststoffklötzen besteht, Félix González-Torres‘ Werk „Untitled (Arena)“, das unter einer Lichterkette Raum zum Tanzen bietet, ein Garten zum Mitgestalten und eine Selbermach-Werkstatt, in der aus industriellen Restmaterialien Neues gemacht werden konnte. Damit bot sich die Gelegenheit, das Ausstellungsthema „Zukunft“ mit verschiedensten Sinnen, und auch unter Einbezug des Körpers auszuloten.

Oft schließen unsere Vorstellungen von der Zukunft an die aktuell erlebte Gegenwart an. Auch Versuche, eine völlig andere, veränderte Zukunftswelt zu denken, beziehen sich nicht selten auf bereits bekannte Visionen, zum Beispiel aus Filmen, digitalen Welten oder Erzählungen. Wie ist es aber möglich, die eigene Kreativität im Hinblick auf die Zukunft zu aktivieren und selbst Visionen zu schaffen? Ziel des Projektes, das ich hier kurz vorstellen möchte, war es, für Schüler*innen einen inspirierenden Raum zu eröffnen, in dem eigene Ideen für Zukünfte zunächst allein durch physische Erfahrung, sozusagen „down to earth“ und jenseits der Vorstellungswelt, entstehen. Dabei machten wir uns die ‚freien Räume‘ der „Erfindung der Zukunft“ zunutze – machten sie zum Experimentierfeld, in dem die Schüler*innen sich den Themen der Ausstellung zunächst in den Medien des zeitgenössischen Tanzes und der Neuen Musik annähern konnten. 

Warum gerade zeitgenössischer Tanz und Neue Musik? Für Experimente mit Zukünften scheinen sie mir besonders geeignet, da beide jenseits eines normativen Anspruchs an Tanz und Gesang die Möglichkeiten von körperlicher Erfahrung und körperlichem Ausdruck selbst zum Gegenstand machen. In beiden Künsten können Erfahrungen gemacht werden, die unsere ‚Alltagsinstrumente‘ Körper und Stimme potentiell ganz neu erleben lassen. In der Offenheit, ‚Zubehörlosigkeit‘ (keine Utensilien wie Musikinstrumente oder Staffelei müssen ausgepackt werden) und damit direkter Anwendbarkeit dieser Formen liegen (vielleicht) auch ihre Potentiale, eine andersartige Zukunft zu entwerfen, die auf sinnlicher Ebene im Jetzt und Hier ansetzt.

Die Leiter der zwei ersten von insgesamt drei Workshops, aus denen das Projekt bestand, sind jeweils Experten auf ihrem künstlerischen Gebiet: Alan Brooks, Choreograph, Tänzer und renommierter Tanzpädagoge aus München, und Cornelius Uhle, klassischer Sänger und Mitglied des Ensembles AUDITIVVOKAL Dresden, das auf Neue Musik spezialisiert ist. Beide hatten zur Vorbereitung der Workshops jeweils eine Fragenliste bekommen, die sich aus dem Thementeil der Ausstellung speiste. „Wie fühlt sich Frieden an?“, „Wann beginnt die Zukunft?“, „Wofür möchte ich mich einsetzen?“ waren einige der Fragen. In den Workshops sollte es darum gehen, diejenigen Fragen, die den Künstlern im Hinblick auf das eigene Medium geeignet schienen, für die Schüler*innen durch Tanz und Neue Musik erfahrbar bzw. (sinnlich) reflektierbar zu machen. 

Im ersten Workshop mit Alan Brooks improvisierten die Schüler*innen so zum Beispiel kleine Choreographien, in denen sie als Duo oder Trio  Kräfte ausloteten, die für „Miteinander“ und für „Gegeneinander“ stehen. Sie experimentierten mit der eigenen Zeitempfindung, indem sie erdachte Bewegungsabläufe anschließend in Zeitlupe übersetzten, und formten ein imaginär-skulpturales „Zukunfts-Ich“, in dessen unsichtbare Form sie sich physisch hineinversetzten – um sich dann wieder daraus zu lösen. „Dass junge Leute die Zukunft sind, wird häufig gesagt“, so Alan Brooks – „aber wie oft werden die Jugendlichen selber gefragt? Im Tanzworkshop zur „Erfindung der Zukunft“ haben sie sich selbst mit Fragen zur Zukunft befasst und waren gefordert, ihre ganz persönlichen Antworten zu finden. Zu zweit, allein, oder in Gruppen – die jungen Leute haben sehr körperliche Ausdrucksformen entdeckt, um die eigene Stärke zu finden, die Person zu werden, die bereit ist, die eigene Zukunft positiv zu gestalten.“

Auch im zweiten Workshop mit Cornelius Uhle zu Neuer Musik entstanden eigene gestalterische Antworten der Schüler*innen, diesmal im Modus experimenteller Klänge. Kleine Aufführungen einiger Stücke u. a. von John Cage (sein Werk „4‘33“, das aus 4 Minuten und 33 Sekunden Stille besteht, wurde als „2’33“ inszeniert) boten den Einstieg in das Feld der Neuen Musik als Kunstform. Experimentelle Geräusche wurden mit Handlungen verbunden, als Kommunikationsfeld erprobt, sowie in der „Gehörmassage“ von Gerhard Stäbler der eigene Hörapparat so bearbeitet, dass Gehörtes sich auf die unterschiedlichsten Weisen verzerrte, taktete, Dumpfheit oder Hall mit sich brachte. In einer großen Performance am Ende des Workshops führten alle Schüler*innen parallel eigene akustische Aktionen auf, so dass ein improvisiertes Konzert nicht nur auditiver, sondern auch physischer Natur im Hof des Japanischen Palais entstand.

Im letzten Workshop, geleitet von mir selbst (Projektkoordinatorin und kuratorische Assistenz der Ausstellung), folgte ein Rundgang durch die den Schüler*innen bis dahin noch unbekannten Themenräume der Ausstellung. In fünf Abschnitten wurden hier große Zukunftsthemen wie Frieden, Nachhaltigkeit und das Phänomen „Zeit“ selbst beleuchtet. Grundlage der Themenauswahl war eine Befragung unter jungen Menschen in Sachsen, die der Ausstellung im November 2018 vorangegangen war. Bei dem Rundgang diskutierten wir zu einzelnen Kunstwerken, oft mit Bezug auf die vorangegangenen Workshops, kamen auf Zitate der Workshopleiter und fragten nach dem Potential der Kunst, zukünftige Gesellschaft mitzugestalten. Anschließend waren die Schüler*innen eingeladen, in der Selbermach-Werkstatt nach dem Vorbild ausgestellter Allegorien (hauptsächlich Skulpturen) eigene Allegorien zu inszenieren – wobei die selbst verkörperte Idee oder das dargestellte Ideal nicht mitgeteilt werden musste.

Der Workshop endete mit einer weiteren gestalterischen Annäherung – diesmal an die Exponate der Themenräume selbst. Die Schüler*innen konnten sich entweder hoffnungsvolle oder pessimistische Zukunftsszenarien ausdenken, wobei ihre Erzählungen jeweils ein Objekt der Ausstellung mit einbeziehen sollten. Die kleinen Performances brachten akustische, tänzerische und erzählerische Ebenen zusammen – wobei jedoch erstere, in den vorangegangenen Workshops beide mit vollem Körpereinsatz erfahren, sich hier wieder in die Grenzen des empfindlichen Museumsraums fügen mussten, und merklich zurückhaltender gestaltet wurden. 

Durch die Workshops angeregt, entwickelten die Schüler*innen im anschließenden Projekt-Schulunterricht, begleitet von der Kunstlehrerin Barbara Kley und der Theaterpädagogin Clara Hermann, ihre eigene gestalterische Erweiterung der Ausstellung – zur Finissage am 3. November 2019 führten sie dann gemeinsam vor den Besucher*innen eine Gruppenperformance in der „Erfindung der Zukunft“ auf. Die „Erfindung der Zukunft“ geht für die Schüler*innen aber auch nach Schließung der Ausstellung weiter: Noch bis zum Ende des Schuljahrs im Sommer 2020 werden sie verschiedenste gestalterische Möglichkeiten ausloten, um neue Zukünfte zu denken, zu fühlen, hörbar zu machen, in Bewegung zu setzen – und dabei sicher eigene Räume auftun, die hierfür am geeignetsten sind. 

 

Teilnehmende: 13 Schüler*innen der 10. Klassen des St. Benno-Gymnasiums, Dresden

Projektleitung / Workshopleitung Ausstellung: Marion Martin

Workshopleitung Gegenwartstanz: Alan Brooks

Workshopleitung Neue Musik: Cornelius Uhle

Begleitende Lehrer*in: Barbara Kley

Begleitende Theaterpädagog*in des Jahresprojekts: Clara Hermann

Fotograf*innen: Martin Förster (Tanzworkshop), Benjamin Schindler (Workshop Neue Musik), Marcel Schroeder (Workshop Ausstellung)